Der deutsche Sport muss sich erneut mit schweren Vorwürfen zum Umgang mit sexuellem Missbrauch auseinandersetzen. Jan Hempel, einer der besten deutschen Wasserspringer der letzten Jahrzehnte, berichtet in der ARD-Dokumentation "Missbraucht - Sexualisierte Gewalt im deutschen Schwimmsport" (Samstag, 20. August, 22:40 Uhr, von diesem Donnerstag an in der ARD-Mediathek) erstmals öffentlich über schwerste sexuelle Übergriffe in der Jugendzeit durch seinen langjährigen Trainer Werner Langer. "Ich bin von meinem Trainer missbraucht worden. Er hat eigentlich keinen Zeitpunkt ausgelassen, um seinen Wünschen und Bedürfnissen freien Lauf zu lassen", sagt Hempel in der Dokumentation.
Der einstige Profisportler, der an diesem Sonntag 51 Jahre alt wird, hatte 1996 in Atlanta Olympia-Silber und 2000 in Sydney Olympia-Bronze gewonnen, neben zahlreichen weiteren internationalen Medaillen. Trainiert wurde er von Langer bereits in Jugendzeiten. Hempel sagt in dem Film des Investigativ-Journalisten Hajo Seppelt, den die SZ vorab einsehen konnte, er sei elf Jahre alt gewesen, als Langer ihn zum ersten Mal missbraucht habe. Von 1982 bis 1996 habe der Missbrauch angedauert. Hempel berichtet, es sei zu regelmäßigen Vergewaltigungen gekommen, unter anderem auch während der Olympischen Spiele 1992 in Barcelona, an der Wettkampfstätte, unmittelbar vor dem Wettkampf.
"Ich weiß bloß, dass man das dann am Ende über sich ergehen ließ, weil er eben solche Dinge sagte wie: 'Wenn du das machst, dann hast du heute Nachmittag frei.'" Zu den Vorwürfen kann sich Langer nicht mehr äußern, er nahm sich 2001 das Leben. Hempel sagt: "Ich glaube, man ist es anderen auch für die Zukunft schuldig, dass man darüber spricht."
Die Missbrauchsvorwürfe gehören zu den massivsten, die ein deutscher Weltklasse-Sportler je öffentlich gemacht hat
Auch, weil sie zu verschwinden drohen, brachte Hempel seine Erinnerungen jetzt zu Papier. Der frühere Spitzensportler ist, wie in der Dokumentation geschildert wird, seit Kurzem an Alzheimer erkrankt.
Die Missbrauchsvorwürfe gehören zu den massivsten, die ein deutscher Weltklasse-Sportler je öffentlich gemacht hat. Hempel hat die Spitze des Deutschen Schwimm-Verbands (DSV) nach eigener Darstellung im Jahr 1997 von den Vorgängen unterrichtet, beschuldigt den DSV aber, sich nie wirklich mit den Vorwürfen auseinandergesetzt zu haben. Der Verband habe sich vielmehr unter einem Vorwand von Langer getrennt - der Trainer war Stasi-Mitarbeiter. "Alle haben geschwiegen, bis heute", sagt Hempel.
Als einen zentralen Mitwisser nennt der ehemalige Wasserspringer den langjährigen DSV-Funktionär und -Trainer Lutz Buschkow, 64, der im Verband als Wassersprung-Bundestrainer noch immer einen Spitzenposten bekleidet und sich derzeit mit der DSV-Delegation bei den Schwimm-Europameisterschaften in Rom aufhält. Konkret wirft Hempel Buschkow im Film vor, dazu beigetragen zu haben, dass sein Missbrauchsfall nie aufgearbeitet wurde und keine Lehren für die Zukunft gezogen wurden. Ein weiterer Zeitzeuge bestätigt in der Dokumentation, dass Buschkow seinerzeit über Hempels Vorwürfe informiert gewesen sei. Buschkow selbst habe eine ARD-Anfrage zu den Vorwürfen nicht beantwortet.
Hempels Schilderungen reihen sich ein in eine ganze Reihe von Vorwürfen und bereits belegten Fällen von sexualisiertem Missbrauch im deutschen Schwimmen. Erst im vergangenen Februar verurteilte das Amtsgericht Würzburg den ehemaligen Langstrecken-Bundestrainer Stefan Lurz deswegen zu einer sechsmonatigen Bewährungsstrafe und 1500 Euro Geldstrafe. Bereits im Jahr 2010 hatte die Staatsanwaltschaft gegen Lurz ermittelt, hatte damals den Verdacht aber nicht erhärten können. Wie der Spiegel im Februar 2021 berichtete, lag das auch daran, dass mehrere Personen aus seinem Umfeld falsch für ihn ausgesagt haben sollen.
Besonders delikat: Das zuständige Amtsgericht Würzburg bestätigte dem ARD-Team, dass Stefan Lurz laut Bewährungsauflagen derzeit "jegliche berufliche und ehrenamtliche Tätigkeit im Zusammenhang mit dem Schwimmsport" zu unterlassen habe. Allerdings zeigen Aufnahmen in der Dokumentation offensichtlich Lurz, als er auf dem Gelände und in Räumlichkeiten des Vereins SV Würzburg 05 tätig ist. Internen Unterlagen zufolge sei er dort mittlerweile als kaufmännischer Mitarbeiter angestellt. Präsident des SV Würzburg ist der ehemalige Langstrecken-Weltmeister Thomas Lurz, der Bruder von Stefan Lurz, der zu konkreten Fragen in der Dokumentation nur sehr ausweichend antwortet.
Der ehemalige DSV-Leistungssportdirektor Thomas Kurschilgen findet Stefan Lurz' Anwesenheit auf dem Vereinsgelände skandalös: "Das ist für mich gegenüber den dort schwimmenden Sportlerinnen und Sportlern eine Respektlosigkeit ohnegleichen", sagte er der ARD. "Wer kann, wenn er diese Bilder sieht, junge Athletinnen und Athleten aus dem Umfeld an diesen Bundesstützpunkt unbedenklich hinführen? Ich bin da wirklich sprachlos". Kurschilgen war 2021 im Zuge der Spiegel-Recherchen zum Fall Lurz vom aktuellen DSV-Präsidium geschasst worden wegen angeblicher Untätigkeit, was er heftig bestreitet. Derzeit führt er darüber einen Rechtsstreit gegen den DSV.
Der DSV wiederum, heißt es, habe auf die offenbar eher weite Auslegung von Lurz' Bewährungsauflagen durch den SV Würzburg 05 erst nach konkreten Recherchen im Sommer reagiert. Demzufolge solle Würzburg nun den Status als Bundesstützpunkt und Stefan Lurz seine Trainerlizenz verlieren.
Die Dokumentation beleuchtet weitere Fälle sexualisierter Gewalt im deutschen Schwimmen. So berichten dort drei ehemalige Athletinnen aus Bayern, die aus nachvollziehbaren Gründen anonym bleiben wollen, von ihrem Trainer im Verein missbraucht worden zu sein, ab ihrem 15., 13. beziehungsweise 10. Lebensjahr. Der Trainer, zwischenzeitlich auch in der Betreuung des DSV-Nachwuchs tätig, wurde inzwischen wegen jahrelangen Missbrauchs junger Schwimmerinnen zu einer mehr als vierjährigen Haftstrafe verurteilt.
Bei den Sommerspielen 2021 in Tokio soll eine zum Schwimmverband gehörige Person zwei Frauen verbal belästigt haben
Außerdem wird der Fall zweier weiblicher Mitglieder der DSV-Delegation während der Olympischen Spiele 2021 in Tokio geschildert, die intern Anzeige erstattet hatten, nachdem eine verbandszugehörige männliche Person ihnen gegenüber mehrfach verbal sexuell übergriffig geworden sei. Obwohl die DSV-Präventionsbeauftragte nach ARD-Informationen Konsequenzen gefordert habe, sei nach Eindruck der Betroffenen nichts passiert. Die aktuelle DSV-Spitze um den Präsidenten Marco Troll ließ dazu lediglich wissen, bei dem Mann liege "gegebenenfalls" ein Verstoß "gegen Good-Governance-Regeln vor".
Jan Hempel kehrt am Ende des Films als traumatisierter Mann nach Barcelona zurück, an den Schauplatz seines olympischen Wettkampfes von 1992 - und an den Ort, der für ihn sportlich, aber vor allem seelisch, zum Albtraum wurde. Der damals 20-Jährige lag auf Medaillenkurs vom Zehn-Meter-Turm, als ihm sein dreieinhalbfacher Auerbachsalto völlig misslang. Nun, 20 Jahre später, kann man zumindest erahnen, warum.
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